Wolfgang Wackernagel

im Gespräch mit Felizitas von Schönborn

 
Original Bild: Sacha Pfister

Felizitas von Schönborn: Meister Eckhart, der dominikanische Mystiker, Denker und Prediger aus dem 13. Jahrhundert zieht immer noch viele Menschen in seinen Bann. Wie kommt es, daß das Interesse an seinem Werk und seinem Wirken nach siebenhundert Jahren nicht nachgelassen hat?

Wolfgang Wackernagel: Ich glaube, daß es dafür mehrere Gründe gibt. Meister Eckhart war zunächst ein Mystiker, der uns angesichts unserer kurzlebigen Zeit viel zu sagen hat. Er wußte, wie man intellektuelle Gotteserfahrung mit der Lebenspraxis vereint. Man hat von ihm gesagt, er sei "Lesemeister" (Lehrmeister) und "Lebemeister" zugleich. Von ihm kann man lernen, ein Gleichgewicht zwischen Tun und Lassen zu finden. "Gelassenheit" war für Eckhart ein Schlüsselwort. Wer sich innerlich löst, kann unbefangen denken und wirken.
Zugleich war er ein begnadeter "Redemeister". In seinen lateinischen und deutschen Schriften hat er neue Begriffe geprägt, von denen sich noch Denker unserer Zeit inspirieren lassen. In unserer Welt der Paradoxe erscheinen Eckharts Gedanken geradezu modern. Mit seinem umfassenden Denkansatz war er bemüht, Widersprüche auszugleichen. Durch innere Schau wollte er Gegensätze auf eine höhere Ebene bringen, ohne sie aufzulösen. These und Antithese münden bei ihm in einer "geistigen Erhebung". In gewissem Sinn hat Eckhart bereits dialektisch gedacht.

F.v.S.: In der Legende gibt es die Gestalt des "getreuen Eckharts". Er ist ein sprichwörtlicher Warner und Ratgeber. Als im Nibelungenlied die Burgunder in Etzels Land kommen, finden sie den getreuen Eckhart an der Grenze als Warner. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem deutschen Mystiker und dieser Sagenfigur?

W.W.: Ich halte es für möglich, daß die Legenden um diese beiden Eckhart-Gestalten aufeinander abgefärbt haben. Auch in Meister Eckharts Familie scheint dieser Name wegen seiner sprichwörtlichen Treue bereits Tradition gehabt zu haben. Der "Eckewart" des Nibelungenliedes ist nur eine von vielen Varianten des "treuen Warners". Bei den Gebrüdern Grimm gibt es eine Sage, wonach im thüringischen Dorf Schwarza die Frau Holle mit ihrem Gespensterheer vorüberzog. Schwarza liegt nur zwanzig Kilometer südlich von Eckharts Geburtsstätte entfernt. Eckhart forderte alle auf, ihr aus dem Weg zu gehen, um sie vor Leid zu bewahren. Auch Ludwig Tieck und Goethe haben Teile dieser Sage übernommen.
In gewisser Weise ergänzen sich die beiden Eckharts: Der Dominikaner ist ein Meister der Demut und der Abgeschiedenheit, Eckhart der Warner verkörpert vor allem der Geist der rechten Unterscheidung. Auch nach seiner Verurteilung durch die offizielle Kirche ist Meister Eckhart, trotz seiner anspruchsvollen Schriften nicht in Vergessenheit geraten. Man hat nie aufgehört ihn zu zitieren. Der getreue Eckhart war wohl tief im Volksglauben verankert - und immer noch ist einiges davon übrig geblieben.

F.v.S.: Wer war Meister Eckhart und warum geriet er mit dem kirchlichen Lehramt in Konflikt?

W.W.: Man weiß, daß er um 1260 bei Tambach südlich von Gotha zur Welt kam. Wahrscheinlich entstammt er der Ritterfamilie "derer zu Hochheim". Eckhart trat ins Dominikanerkloster von Erfurt ein. Auf Grund seiner besonderen Begabungen wurde er von seinem Orden gefördert. Bei seinem Studium in Köln zählte wohl auch Albertus Magnus, einer der größten dominikanischen Theologen, zu seinen Lehrern. Um 1300 wurde er als "Meister", das heißt Doktor der Theologie und Philosophie auf den ehemaligen Lehrstuhl des Thomas von Aquin nach Paris berufen. Sein erstes Werk "Die Reden der Unterweisung" waren einige Jahre vorher in Erfurt entstanden, wo er als Prior dem Dominikanerkonvent vorstand.
Als er später Provinzial des Ordens wurde, legte er die weiten Strecken zwischen den Klöstern und Städten meist zu Fuß zurück. Er predigte in deutscher Sprache. Da seine Predigten sehr beliebt waren, wurden sie immer wieder abgeschrieben und fanden eine weite Verbreitung. Es ist nicht verwunderlich, daß sich dabei auch mancher Fehler einschlich. Diese Unrichtigkeiten haben schließlich auch dazu beigetragen, daß Eckhart unter den Verdacht der Ketzerei geriet.

F.v.S.: Wie kam es dazu, daß der hohe kirchliche Würdenträger und gefeierte Volksprediger bei der offiziellen Kirche und der Inquisition angeeckt ist?

W.W.: Noch nie hat die Inquisition eine so hoch stehende Persönlichkeit, vor allem im eigenen Orden der Häresie beschuldigt. Anfangs haben sicher auch politische Spannungen, Eifersüchteleien und Intrigen mitgespielt. Der politische Hintergrund liegt in der verbissenen Rivalität zwischen dem Avignon Papst Johannes XXII und dem "Kaiser und Ketzer" Ludwig dem Bayern. Im Jahr 1326 schritt der Erzbischof von Köln gegen Eckhart ein. Er lud ihn vor sein eigenes Tribunal. Die Untersuchung wurde von zwei Franziskanern geführt. Damals herrschte eine große Rivalität zwischen diesen beiden Orden.
Es kam allerdings zum Inquisitionverfahren, weil er von Mitgliedern des eigenen Ordens denunziert wurde. Man wollte Eckharts Ruf nachhaltig untergraben. Mehrere Prozesse haben stattgefunden, zuerst in Köln und dann in Avignon. Lange Listen mit vermeintlich ketzerischem Gedankengut wurden zusammengestellt. Schließlich blieben 28 häretische Thesen übrig, die Johannes XXII durch eine Bulle verurteilte. Da man die Sätze aus dem Zusammenhang genommen hatte, klangen sie überspitzt. Selbst in der Bibel finden sich einige Stellen, die skandalös wirken könnten wenn man sie einseitig zitiert. Es war sehr gefährlich, der Ketzerei bezichtigt zu werden. Man mußte nicht nur um sein Werk, sondern auch um Leib und Leben fürchten.

F.v.S.: War Meister Eckhart wirklich ein Ketzer?

W.W.: Nein. In seiner Verteidigungsschrift sagt er: "Ich kann mich irren, (weil ja irren menschlich ist), aber ich kann kein Ketzer sein. Das erste hängt vom menschlichen Verstand ab und der menschliche Verstand ist schwach (und man kann sich irren). Das zweite aber hängt vom Willen ab." Mit seinen gewagten Äußerungen wollte er die Kirche nicht angreifen, sondern gewissermaßen den Staub der Jahrhunderte von ihr abzuschütteln. Im kirchlichen Sinn war Eckhart bestimmt keine Revolutionär, wie Savonarola oder Luther. Heute erscheint manchen der Vorwurf der Ketzerei fast schon ein Kompliment zu sein. Ich denke an Giordano Bruno und Spinoza bis hin zu Hans Küng und Eugen Drewermann.

F.v.S.: Gibt es Bestrebungen in der katholischen Kirche, um Meister Eckhart zu rehabilitieren, wie vor einigen Jahren Galileo Galilei?

W.W.: Vor etwa fünfzehn Jahren hat sich ein englischer Dominikaner dafür eingesetzt, eine Eckhart-Kommission mit verschiedenen Spezialisten zu bilden. Das Ergebnis ist ein dicker Band, der den Titel "Der deutsche Eckhart, ein gelehrter und heiliger Mensch" trägt. Der Titel zeigt schon, daß Eckhart eigentlich heilig gesprochen werden sollte.

F.v.S.: Manche mögen in Meister Eckhart einen Brückenbauer zwischen verschiedenen Religionen sehen.

W.W.: Nicht nur zwischen verschieden Weltanschauungen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Strömungen unserer eigenen Kultur. Vor kurzem hat in Hannover ein Kolloquium mit dem Titel "Die Seele in der Moderne" stattgefunden, an dem sich Psychologen, Theologen und Philosophen beteiligten. Dabei bezog man sich immer wieder auf den "genialen Seelenanalytiker" Meister Eckhart, weil er das Philosophische und das Therapeutische mit dem Seelsorgerischen zu verbinden wußte. Eckharts Werk kann uns helfen, die Kluft zwischen diesen Richtungen zu überwinden.
Eckhart ist auch eine religiöse Integrationsfigur. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto bezog sich bei seinem Vergleich mit Shankara, einem Hauptvertreter des hinduistischen Vedismus im 9. Jahrhundert auf Meister Eckart. Er sah Parallelen zwischen dem Verhältnis von Atman, der Seele des einzelnen und Brahman - dem schöpferischen Prinzip. Das erinnert an Eckharts Zusammenspiel von Seelengrund und Gottheit.
Auch Denker aus dem Osten, wie D.T. Suzuki, sprechen von der Nähe der Gedankenwelt Eckharts zum Buddhismus - auf die bereits Arthur Schopenhauer hingewiesen hatte. Andere Forscher haben wiederum Parallelen zwischen islamischen Denkern und dem deutschen Mystiker aufgezeigt. Ich denke an den großen arabischen Philosophen und Arzt Averroes (Ibn Ruschd) aus dem zwölften Jahrhundert. Averroes, der die Lehren des Aristoteles mit arabisch-islamischen Denken verband, hatte großen Einfluß auf die philosophischen Schulen im Paris des dreizehnten Jahrhunderts. Eckhart hat manches von ihm übernommen. Im Judentum war Maimonides ein Vorbild für ihn, der ebenfalls versuchte seinen Glauben mit dem aristotelischen Denken zu verbinden.

F.v.S.: Mystiker stehen oft im Ruf in anderen Sphären zu leben und sich der Welt zu entziehen. Wie verhält sich das bei Meister Eckhart?

W.W.: Eckhart war ja auch in der Welt sehr aktiv. Seine Weltenferne ist wie gesagt mehr eine seelische Gelassenheit. In seiner Predigt über das Gleichnis von "Maria und Martha" aus dem Neuen Testament hat er Entscheidendes über das Verhältnis des aktiven zum contemplativen Leben gesagt. Martha ist bei den Dingen, doch nicht in den Dingen. Sie wird nicht von den Ereignissen überrumpelt. Man soll bei der Sorge sein und nicht in der Sorge, das heißt sich nicht von den Sorgen auffressen lassen. Eckhart geht es um die Verwurzelung in der Zeitlosigkeit und zugleich um die Wirksamkeit in der Zeit. Für ihn ist die aktive Martha im Grunde weiter entwickelt als die contemplative Maria. Maria muß erst wie Martha werden, um zur spirituellen Reife zu gelangen. Hier ist Gotteserfahrung ein Weg in die Welt, ein Wirken aus Gott in der Zeit. Die Abgeschiedenheit, die Vita contemplativa ist als Grundlage des spirituellen Lebens wichtig. Doch sie soll im aktiven Leben ihre Bewährung und Vollendung finden.
Eckhart sagt, wenn man sich auch in den höchsten Ebenen der inneren Schau befände und jemand nach einem Süppchen begehre, solle man es ihm geben. Abgeschiedenheit heißt für ihn vor allem "Selbstfindung im göttlichen Ursprung", um nicht an die Welt verloren zu gehen. Dieser Gedanke ist gerade heute angesichts der großen Bilderflut und der rastlosen Lebensweise wichtig. Wenn man sich selber entäußert und nicht ein inneres abgeschiedenes Selbst hat, kann man in diesem Chaos untergehen. Meister Eckhart zeigt uns besonders durch sein polares Denken, wie man ausgeglichen zwischen Distanz und Nähe zu den Dingen leben kann.

F.v.S.: Wer Meister Eckhart liest, findet auch in unserer eigenen Kultur viele verborgene Schätze spritueller Erfahrung wieder ...

W.W.: Ja, das habe ich selbst in ähnlicher Weise als Fünfzehnjähriger erfahren. Damals interessierte ich mich mehr für Tibet, Yoga und Zen als für die abendländische Tradition. Durch ein Buch des indischen Autors Ananda K. Coomaraswamy, in dem Ost und West miteinander verglichen werden, erfuhr ich dann erstmals von Meister Eckhart. Auch die Schriften des Zenmeisters D.T. Suzuki haben mich wieder zurück zum abendländischen Denken geführt. Im Grunde kann ein Dialog mit anderen Weltanschauungen nur fruchtbar werden, wenn man in seiner eigenen Kultur verwurzelt ist.

F.v.S.: Hat Eckhart nicht auch in den neueren Literaturen Spuren hinterlassen?

W.W.: Ja, er hat zum Beispiel Robert Musil beeinflußt, der das Leben als Experiment ansah. Bei ihm geht es immer wieder um die Frage der menschlichen Identität im 20. Jahrhundert. Sein Grundthema war eine scharfe, wenn auch ironische Analyse des modernen Menschen in der zusammenbrechenden Donaumonarchie. Lange fehlte ihm für sein Hauptwerk der richtige Titel. Als begeisterter Eckhartleser hat er von diesem dann den Titel "Der Mann ohne Eigenschaften" übernommen. Allerdings hat Musil die Idee der Eigenschaftslosigkeit anders verstanden. Für ihn ist ein eigenschaftsloser Mensch jemand, der verloren ist. Bei Eckhart hingegen bedeutet eigenschaftslos sein, sich selbst gefunden zu haben.

F.v.S.: Wir haben uns in diesem Jahrhundert von einer Wortkultur zu einer Bildkultur hinentwickelt. Auch Meister Eckhart hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie Bilder auf die menschliche Seele einwirken.

W.W.: Seine Vorstellungen sind in den Bildwissenschaften wieder aktuell geworden. In Deutschland gibt es mehrere Zentren, zum Beispiel in Magdeburg, Karlsruhe und Köln die sich mit diesem Themenkreis befassen. Die Bildfrage berührt auch den Kern der gegenwärtigen Mediendiskussion. Im übrigen geht das Wort "Bildung" auf ihn zurück. Bei ihm finden sich allerdings noch weitere Begriffe wie Ent-bildung, Über-bildung oder Ein-erbildung. Der Begriff Bildung ist, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer meint, zu einem humanistischen Leitbegriff geworden. Vielleicht befinden wir uns in einer Bildungskrise, weil wir nur den Begriff der Bildung und nicht auch den der Ent-bildung aufgenommen haben.
Für Eckhart sind Bildung und Ent-bildung eng miteinander verknüpft. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis. Erst der ent-bildete Mensch findet zu seinem eigenen Wesen. Denn die Erfahrung des Seelengrundes, des eigenen Selbst, ist bei Eckhart, ähnlich wie im Buddhismus bildlos. Für ihn wird Selbstfindung zur Gottfindung, zur Gottesgeburt in der menschlichen Seele. Zuletzt wurde das Wort "Ent-bildung" in diesem Sinne von Angelus Silesius verwendet. Er schrieb: "Entbilde dich mein Kind, so wirst du Gotte gleich und bist in stiller Ruh dir selbst ein Himmelreich."

F.v.S.: Meister Eckhart ging es doch auch sehr um den "Geist der Unterscheidung". Hätte er den suchenden Menschen unserer Tage nicht einiges zu sagen?

W.W.: Vor allem kann er uns helfen, in der offensichtlich großen Sehnsucht nach Mystik Verwirrungen zu vermeiden. So sind zu Beispiel auch Eckharts "Reden der Unterweisung" zugleich "Reden der Unterscheidung". Gerade im spirituellen Leben ist es wichtig, ein klares Unterscheidungsvermögen zu wahren. Auch wenn es um die Einheit in der Gotteserfahrung geht, gelingt es Meister Eckhart jede Form der Einseitigkeit in der geistigen Praxis zu vermeiden. Und es ist ebenfalls bemerkenswert, daß bei ihm weder Haß noch Verachtung für spirituelle Außenseiter, wie zum Beispiel die Beginen, zu finden scheint.

F.v.S.: Der Psychoanalytiker Erich Fromm schreibt, Meister Eckhart habe die Lebenshaltung des Habens und des Seins in einer Klarheit analysiert, die später nie wieder erreicht worden sei...

W.W.: Für Eckhart sind Sein und Leben eins. Es ist nicht so wichtig was der Mensch tut, sondern was er ist. Fromm stellt das Sein in Gegensatz zur Haltung des Habens, zur Ichbindung und zum Egoismus. In Eckharts ethischem System sei die innere Askese die höchste Tugend, weil sie den Egoismus überwinde. Eckhart selbst lebte zwar in einem Bettelorden, trat aber nicht für eine harte Askese ein. Es ging ihm darum, nicht von äußeren Dingen abzuhängen. Von Selbstkasteiung hielt er nichts. Doch an der ungehemmten Besitzgier unserer Konsumgesellschaft würde ihm sicher die innere Leere mißfallen, die mit dem ständigen Anhäufen von Gütern einhergeht. Dadurch vergehen die innere Ruhe und die Freiheit. Eckhart war eben ein Asket und zugleich ein Lebensbejahender Mensch.

F.v.S.: War Meister Eckhart auch ein Naturmystiker?

W.W.: Für ihn war die Welt ein einziges Sprechen Gottes. Die ganze Schöpfung ist gottdurchflutet, sie ruht in Gott wie die Phantasie in einem künstlerischen Geist. Eckhart sagt von "Gott im Seelengrunde", daß er blühe und grüne. Durch seine zahlreichen Wanderungen hat er die Natur sehr intensiv erlebt. So gibt es viele Metaphern bei ihm, die mit dem üppigen Reichtum der Natur verbunden sind. Für ihn ist eine Raupe, ein Mistwürmchen oder ein Fliege in Gott erhabener , als der höchste Engel in sich selbst. Einerseits ist jede Kreatur für ihn ein reines Nichts, die ganze Schöpfung wird zu einer reinen Nichtigkeit. Andererseits ist in dieser Sicht die Schöpfung in der Fülle Gottes begründet.

F.v.S.: Welche Stellung nimmt Christus in dieser Weltsicht ein?

W.W.: Christus ist sowohl der Vermittler und das Beispiel schlechthin. Die ganze christliche Heilslehre ist bei Eckhart durch Christus vermittelt. Eckhart geht es vor allem um die "Gottesgeburt" in der Seele des Menschen. Im Innersten der Seele findet sich das "Seelenfünklein", mit dem der Mensch an Gott teilhat.

F.v.S.: Aus der Sicht des Meister Eckhart erscheint das Weihnachtsfest als ein Fest der Geburt des göttlichen Kindes in unserer eigenen Seele ...

W.W.: Zu Weihnachten, an dem ursprünglich die Wintersonnenwende und die Rauhnächte gefeiert wurden, beginnt mit der Rückkehr des Lichtes ein neues Erwachen der Natur. Auch in diesem Zusammenhang wird die Geburt des Heilandes zum Sinnbild der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. Und da Gott nichts ist, müssen wir uns darauf einstellen, nichts zu werden, um mit Gott eins zu werden. Damit könnte das "aller Bilde entbildete" Seelenfünklein mit Maria gleichgestellt werden, die jungfräuliche Seele empfängt Gott: Sie war "schwanger vom Nichts wie eine Frau mit einem Kinde, und diesem Nichts ward Gott geboren, der war die Frucht des Nichts". Damit Gott uns "den ganzen Abgrund seiner Gottheit und die Fülle seines Seins und seiner Natur offenbare".

 


Notiz: Dieses Gespräch ist in unterschiedlichen Fassungen in mehreren Zeitungen veröffentlicht worden. Vgl. Felizitas von Schönborn, "Wird ein 'Ketzer' rehabilitiert? Interview mit dem Meister-Eckhart-Experten Wolfgang Wackernagel", in "Glaube und Wissen", Die Furche Nr. 51 / 52, Wien, den 21. XII. 1995 S. 9; Id., "Lese- und Lebemeister. Gespräch über Meister Eckhart mit Wolfgang Wackernagel", in "Spektrum Religion", Salzburger Nachrichten, 13. I. 1996, S. 8; Id., "Un génial analyste de l'âme" in Le Courrier, Genève, 17. XII. 1996, S. 8 (traduction remaniée W.W.). Vgl. auch Karine Barbier, "La vision bienheureuse. Entretien avec Wolfgang Wackernagel", in Dharma n° 28: Trinité-Trikaya, triades en dialogue, Arvillard, Février-Mai 1997, S. 49-56.